* 3 *

3. Barney Pot

 

Barney Pot

Tante Zelda steckte fest. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber es stimmte. Sie versuchte, den Königsweg zu benutzen – einen magischen Korridor, der vom Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte direkt in einen Schrank im Königinnengemach im Palast führte. Dieser Schrank, weit entfernt in der Burg, war mit ihrem völlig identisch. Um den Korridor zu öffnen, musste sie zunächst die Schranktür schließen und dann eine bestimmte Schublade neben ihrem rechten Fuß aufziehen. Und nachdem sie Wolfsjunge – und sich selbst – den langen Winter über förmlich gemästet hatte, war das Schließen der Schranktür kein Kinderspiel.

Tante Zelda stemmte sich gegen die überquellenden Regale, atmete ein und zog die Tür zu. Die Tür sprang wieder auf. Tante Zelda knallte sie wieder zu, und eine Reihe von Flaschen mit Tränken kippten leise klirrend hinter ihr um. Ganz vorsichtig drehte sie sich rechts herum den Flaschen zu, und dabei stieß sie gegen einen Stapel kleiner Dosen mit getrockneten Flüchen. Die Dosen fielen scheppernd zu Boden. Schnaufend bückte sich Tante Zelda, um sie aufzuheben, und die Schranktür flog wieder auf.

Vor sich hin brummelnd, stapelte Tante Zelda die Dosen ins Regal zurück und stellte die Flaschen mit den Tränken wieder in eine Reihe. Sie warf einen drohenden Blick auf die Schranktür. Warum war sie so widerspenstig? Mit einem energischen Ruck – nur um der Tür zu zeigen, wer hier das Sagen hatte – zog Tante Zelda sie abermals zu. Dann verharrte sie reglos und wartete. Die Tür blieb zu. Ganz, ganz langsam und vorsichtig drehte sich Tante Zelda herum, bis sie den Regalen das Gesicht wieder zukehrte. Erleichtert atmete sie auf, da sprang die Tür wieder auf. Tante Zelda widerstand dem Verlangen, ein sehr hässliches Hexenwort auszustoßen, fasste hinter sich und schlug die Tür zu. Ein paar Flaschen klirrten, aber sie hörte nicht hin. Rasch, bevor die Tür sich wieder anders besann, zog sie mit dem Fuß die unterste Schublade auf. Geschafft! Hinter ihr verriet ein vielsagendes Klicken im Innern der Tür, dass der Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte durch einen Zauber verriegelt und der Königinnenweg geöffnet war. Tante Zelda reiste durch den magischen Korridor – und blieb prompt am anderen Ende stecken.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie es schaffte, aus dem zweiten Schrank im Königinnengemach herauskommen. Erst als sie die Luft anhielt und sich seitlich nach vorn zwängte, sprang die Schranktür endlich auf. Aber ihr Erscheinen im Königinnengemach entbehrte etwas der Würde und hatte etwas von einem Korken, der aus der Flasche flutschte.

Das Königinnengemach war ein kleiner runder Raum mit nichts darin als einem Kamin, in dem unablässig ein Feuer brannte, einem bequemen Sessel, der direkt davor stand – und einem Geist. Der Geist saß in dem Sessel und blickte verträumt in die Flammen. Es war der Geist einer jungen Königin, einer ehemaligen jungen Königin. Sie trug ihr dunkles Haar offen, nur von einem schlichten Goldreif gebändigt, und hatte sich ihre rot-goldene Robe um den Leib geschlungen, als friere sie. Genau über dem Herzen prangte ein Blutfleck auf der Robe, dort, wo die Königin – die von den Bewohnern der Burg jetzt die gute Königin Cerys genannt wurde – ungefähr zwölfeinhalb Jahre zuvor von einer Pistolenkugel tödlich getroffen worden war.

Bei Tante Zeldas dramatischem Auftritt schaute Königin Cerys auf. Sie sah die Besucherin mit einem fragenden Lächeln an, sagte aber nichts. Tante Zelda machte eilends einen Knicks, huschte durch den Raum und verschwand durch die Wand. Königin Cerys widmete sich wieder der Betrachtung des Feuers und dachte bei sich, dass es doch seltsam war, wie schnell sich Lebende veränderten. Zelda musste aus Versehen einen Vergrößerungszauber gegessen haben. Vielleicht sollte sie es ihr sagen. Oder doch lieber nicht.

Draußen auf dem schmutzigen Treppenabsatz steuerte Tante Zelda unterdessen auf eine schmale Treppe zu, die durch den Turm nach unten führte. Sie hoffte, es war nicht allzu unhöflich von ihr gewesen, an der Königin einfach so vorbeizurauschen. Aber für eine Entschuldigung war später noch Zeit genug. Jetzt musste sie schleunigst zu Septimus.

Am Fuß der Treppe angekommen, stieß sie die Turmtür zum Palastgarten auf und stapfte zielstrebig über den breiten Rasen, der sich bis hinüber zum Fluss erstreckte. Weit entfernt zu ihrer Rechten konnte sie ein zerschlissenes gestreiftes Zelt sehen, das bedenklich nahe am Ufer stand. Tante Zelda wusste, dass in dem Zelt ihre beiden Lieblingsgeister, Alther Mella und Alice Nettles, wohnten, doch sie schlug die entgegengesetzte Richtung ein – nach links zu der langen Reihe hoher Tannen, die den Rasen begrenzten. Während sie auf die Bäume zueilte, hörte sie das laute Rauschen von Drachenflügeln, ein Geräusch wie das Geknatter Hunderter gestreifter Zelte voller Geister, die von einem gewaltigen Sturm fortgeblasen wurden. Über den Bäumen sah sie die Spitze von Feuerspeis Flügel, als der Drache sie streckte und für den bevorstehenden langen Flug seine kalten Muskeln dehnte. Und obwohl sie nicht sehen konnte, wer ihn flog, wusste sie, dass nicht Marcia auf dem Drachen saß, sondern Septimus.

»Warte!«, schrie sie und lief schneller. »Warte!« Doch ihre Stimme wurde übertönt, als hinter den Bäumen Feuerspei seine Flügel nach unten drückte und der kräftige Luftzug die Tannen zum Schwanken brachte. Keuchend und schnaufend blieb Tante Zelda stehen, um Atem zu schöpfen. Es war zwecklos, dachte sie, sie schaffte es nicht. Jeden Augenblick würde der Drache abheben und mit Septimus davonfliegen.

»Fehlt Ihnen etwas, Miss?«, erkundigte sich ängstlich eine dünne Stimme von irgendwo hinter ihr.

»Wie?«, stieß Tante Zelda hervor, drehte sich nach dem Besitzer der Stimme um und erblickte direkt hinter sich einen kleinen Jungen, den eine Schubkarre fast vollständig verdeckte.

»Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte der Junge voller Hoffnung. Barney Pot war nämlich unlängst den neu gegründeten Burgwölflingen beigetreten und musste heute noch seine gute Tat vollbringen. Zuerst hatte er Tante Zelda irrtümlich für ein Zelt gehalten wie das gestreifte unten am Landungssteg, und jetzt fragte er sich, ob sie vielleicht in einem Zelt feststeckte und den Kopf oben herausgestreckt hatte, um nach Hilfe zu rufen.

»Ja ... das kannst du«, antwortete Tante Zelda schnaufend, fasste tief in ihre Geheimtasche und zog die kleine goldene Flasche hervor. »Bring die ... dem Außergewöhnlichen Lehrling ... Septimus Heap. Er ist ... da drüben.« Sie fuchtelte mit den Händen in Richtung der schwankenden Tannen. »Bei... bei dem Drachen.«

Der Junge machte noch größere Augen. »Dem Außergewöhnlichen Lehrling? Bei dem Drachen?«

»Ja. Gib ihm dies hier.«

»Was ... ich?«

»Ja, mein Junge. Bitte.«

Tante Zelda drückte dem Jungen die kleine goldene Flasche in die Hand. Er starrte sie an. Etwas so Schönes hatte er noch nie gesehen. Die Flasche fühlte sich seltsam schwer an – viel schwerer, als man erwarten würde –, und ganz oben stand etwas in einer seltsamen Schrift. Barney lernte gerade schreiben, aber nicht so komische Sachen.

»Sag dem Lehrling, dass es sich um einen Sicherheits-Charm handelt«, erklärte Tante Zelda. »Sag ihm, dass Tante Zelda ihn schickt.«

Barney sah aus, als wollten ihm die Augen aus dem Kopf springen. Solche Dinge geschahen in seinem Lieblingsbuch Einhundert Geschichten für gelangweilte Jungen, aber ihm selber passierten sie nie.

»Mann ...«, stieß er hervor.

»Ach so, warte noch ...« Tante Zelda fischte noch etwas anderes aus ihrer Tasche und reichte es Barney. »Das gibst du ihm auch.«

Barney nahm das Kohlsandwich argwöhnisch entgegen. Es fühlte sich kalt und matschig an, und im ersten Moment dachte er, es sei vielleicht eine tote Maus, nur dass tote Mäuse in der Mitte keine glitschigen grünen Stückchen hatten. »Was ist das?«, fragte er.

»Ein Kohlsandwich. Nun aber los, mein Junge«, drängte Tante Zelda. »Der Sicherheits-Charm ist sehr wichtig. Spute dich!«

Das ließ sich Barney nicht zweimal sagen – er wusste aus »Die schreckliche Geschichte vom faulen Larry«, dass man einen Sicherheits-Charm immer so schnell wie möglich abliefern musste. Tat man es nicht, konnten einem alle möglichen schlimmen Dinge zustoßen. Er nickte, stopfte das Kohlsandwich in seine schmutzige Kitteltasche und rannte, die goldene Flasche fest umklammernd, so schnell er konnte, in Richtung Drache davon.

Barney war rechtzeitig zur Stelle. Als er rennend auf der Drachenwiese ankam, sah er, wie der Außergewöhnliche Lehrling – ein großer Junge mit langen blond gelockten Haaren und grüner Lehrlingstracht – gerade dabei war, auf den Drachen zu klettern. Neben ihm stand Barneys Onkel, Billy Pot. Er hielt den Kopf des Drachen und streichelte eine der großen Stacheln auf seiner Nase.

Barney mochte den Drachen nicht. Er war riesengroß, gruselig und roch komisch – wie Onkel Billys Eidechsengehege, nur hundertmal schlimmer. Und seit der Drache einmal um ein Haar auf ihn draufgetreten wäre und Onkel Billy ihn angebrüllt hatte, weil er im Weg gestanden hatte, hielt er sich von ihm fern. Aber Barney war klar, dass er sich jetzt nicht von ihm fernhalten konnte – er hatte einen wichtigen Auftrag. Er rannte geradewegs zu dem Außergewöhnlichen Lehrling und sagte: »Verzeihung!«

Doch der Außergewöhnliche Lehrling schenkte ihm keine Beachtung. Er legte sich einen komisch riechenden Pelzmantel um die Schultern und sagte zu Onkel Billy: »Ich halte Feuerspei, Billy. Könnten Sie Marcia sagen, dass ich jetzt abfliege?«

Barney sah, wie Onkel Billy zur anderen Seite der Wiese blickte, wo – Mannomann! – die Außergewöhnliche Zauberin stand und mit Sarah Heap sprach, der Frau, die im Palast zu bestimmen hatte und die die Mutter der Prinzessin war, obwohl sie nicht Königin war. Barney hatte die Außergewöhnliche Zauberin noch nie gesehen, aber selbst von Weitem sah sie so Furcht einflößend aus, wie seine Freunde sie beschrieben hatten. Sie war richtig groß, hatte dichtes schwarzes, lockiges Haar und trug ein langes lila Gewand, das im Wind flatterte. Außerdem hatte sie eine ziemlich laute Stimme, denn Barney konnte hören, wie sie Onkel Billy zurief: »Jetzt, Mr. Pot?« Aber Barney wusste, dass er keine Zeit hatte, die Außergewöhnliche Zauberin anzuglotzen. Er musste den Sicherheits-Charm beim Außergewöhnlichen Lehrling abliefern, der Anstalten machte, auf den Drachen zu klettern. Er musste es jetzt tun, bevor es zu spät war.

»Herr Lehrling!«, rief Barney, so laut er konnte. »Verzeihung!«

Septimus Heap hielt mit halb erhobenem Fuß inne und sah nach unten. Sein Blick fiel auf einen kleinen Jungen, der mit großen braunen Augen zu ihm aufsah. Der Junge erinnerte ihn an jemanden, den er vor langer Zeit gekannt hatte – vor sehr langer Zeit. Fast hätte Septimus »Was gibt’s, Hugo?« gesagt. Doch er verkniff es sich und sagte nur: »Was gibt’s?«

»Bitte«, antwortete der Junge, der genau wie Hugo klang. »Ich habe etwas für Sie. Es ist wirklich wichtig, und ich habe versprochen, es Ihnen zu geben.«

»Ach ja?« Septimus ging in die Hocke, damit der Junge nicht ständig zu ihm aufschauen musste. »Was ist es denn?«, fragte er.

Barney Pot spreizte die Finger, mit denen er die Flasche umklammert hatte. »Das hier. Es ist ein Sicherheits-Charm. Eine Dame hat mich gebeten, ihn Ihnen zu geben.«

Septimus zuckte wie von der Tarantel gestochen zurück. »Nein«, sagte er unwirsch. »Nein. Nein danke.«

Barney blickte verdutzt. »Aber er ist für Sie.« Er streckte Septimus die Flasche hin.

Septimus richtete sich wieder auf und wandte sich dem Drachen zu. »Nein«, wiederholte er.

Barney blickte erschrocken auf die Flasche. »Aber es ist ein Sicherheits-Charm. Es ist wirklich wichtig. Bitte, Herr Lehrling, Sie müssen ihn nehmen.«

Septimus schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss ihn nicht nehmen.«

Barney war entsetzt. Er hatte versprochen, den Sicherheits-Charm abzuliefern, also musste er ihn auch abliefern. Schreckliche Dinge passierten mit Menschen, die versprochen hatten, einen Sicherheits-Charm abzuliefern, und ihr Versprechen nicht hielten. Das Mindeste war, dass er in einen Frosch verwandelt wurde oder – igitt! – in eine Eidechse. Er würde in eine kleine stinkige Eidechse verwandelt werden, und Onkel Billy würde es nie erfahren. Er würde ihn einfangen und in ein Eidechsengehege zu den anderen Eidechsen sperren. Aber die würden merken, dass er keine richtige Eidechse war, und ihn auffressen. Es war eine Katastrophe. »Sie müssen ihn nehmen!«, schrie Barney und hüpfte verzweifelt auf der Stelle. »Sie müssen ihn nehmen!«

Septimus sah Barney an. Der Junge tat ihm leid. »Sag, wie heißt du eigentlich?«, fragte er freundlich.

»Barney.«

»Also, Barney, lass dir einen guten Rat geben: Nimm niemals von jemandem einen Sicherheits-Charm an. Niemals.«

»Bitte.« Barney packte Septimus am Ärmel.

»Nein. Lass los, Barney, in Ordnung? Ich muss los.« Damit fasste Septimus nach einem großen Stachel am Hals des Drachen, schwang sich nach oben und setzte sich in die schmale Kuhle vor den kräftigen Schultern des Drachen. Barney blickte verzweifelt zu ihm hinauf. Jetzt konnte er ihn nicht mehr erreichen. Was sollte er nur tun?

Gerade hatte Barney beschlossen, dem Lehrling den Charm einfach zuzuwerfen, da drehte Feuerspei den Kopf, und das rot umrandete Drachenauge blickte die kleine, verzweifelt auf und ab hüpfende Gestalt boshaft an. Barney fing den Blick auf und sprang zurück. Er glaubte Onkel Billy nicht, wenn er behauptete, Feuerspei sei ein Gentleman und könne keiner Fliege etwas zuleide tun.

In diesem Moment trat Marcia Overstrand mit Onkel Billy zu dem Drachen. Ob er ihr vielleicht den Charm geben sollte, damit sie ihn dann an den Lehrling weitergab? Barney beobachtete, wie sich die Außergewöhnliche Zauberin vergewisserte, dass die beiden großen Satteltaschen hinter Septimus auch richtig festgezurrt waren. Und wie sie sich dann zu dem Lehrling hinüberbeugte und ihn umarmte, was ihn zu überraschen schien. Dann plötzlich traten sie und Onkel Billy zurück, und Barney begriff, dass der Drache gleich abheben würde. Da erst fiel ihm ein, was er außerdem noch ausrichten sollte.

»Er ist von Tante Zelda!«, schrie er so laut, dass ihm der Hals wehtat. »Der Sicherheits-Charm ist von Tante Zelda. Und hier ist auch ein Sandwich!«

Doch es war zu spät. Sein Schrei ging in einem donnernden Brausen unter, und im nächsten Moment wurde Barney von einem kräftigen Drachenabwind erfasst und in einen Haufen von etwas geschleudert, das sehr schlecht roch. Und als er sich wieder aufgerappelt hatte, schwebte der Drache hoch über den Wipfeln der Tannen, und alles, was Barney noch vom Lehrling sah, waren die Sohlen seiner Stiefel.

»Nanu, Barney«, sagte sein Onkel, der ihn erst jetzt bemerkte. »Was machst du denn hier?«

»Nichts«, schluchzte Barney und lief davon.

Barney flitzte durch ein Loch in der Hecke am Ende der Drachenwiese. Er hatte nur einen Gedanken: Er musste der Dame im Zelt den Sicherheits-Charm zurückgeben und erklären, was geschehen war – dann wurde vielleicht alles wieder gut. Aber die Dame im Zelt war nirgendwo zu entdecken.

Doch dann sah Barney zu seiner Erleichterung den Zipfel eines Flickenzeltes in einer Pforte des alten Turms ganz hinten am Palast verschwinden. Onkel Billy hatte ihm zwar eingeschärft, dass er den Palast nicht betreten dürfe, aber in diesem Augenblick war ihm egal, was Onkel Billy gesagt hatte. Er rannte den alten Backsteinweg entlang, der zu dem Turm führte, und einen Augenblick später war er im Innern des Palastes.

Im Palast war es dunkel. Außerdem roch es merkwürdig, und Barney gefiel das ganz und gar nicht. Von der Dame im Zelt war nichts zu sehen. Zu seiner Rechten schraubte sich eine schmale Wendeltreppe in den Turm hinauf, und zu seiner Linken war eine große alte Holztür. Barney glaubte nicht, dass die schmale Treppe für die Dame im Zelt breit genug war, und so stieß er die alte Tür auf und trat vorsichtig durch die Öffnung. Vor ihm lag der längste Korridor, den er je gesehen hatte. Tatsächlich war es der Langgang, ein breiter Korridor, der den Palast wie ein Rückgrat durchzog. Er war so breit wie eine Gasse und so dunkel und leer wie eine Landstraße um Mitternacht. Barney schlich weiter, aber von der Dame im Zelt keine Spur.

Der Korridor gefiel Barney nicht. Er machte ihm Angst. Und er war auf beiden Seiten von seltsamen Gegenständen gesäumt: Standbildern, ausgestopften Tieren und grässlichen Gemälden von gruseligen Leuten, die ihn anglotzten. Aber er glaubte immer noch fest, dass die Dame im Zelt nicht weit sein konnte. Er betrachtete den Sicherheits-Charm, und ein Lichtschimmer von irgendwoher wurde von dem glänzenden Gold zurückgeworfen, als wollte er ihn daran erinnern, wie wichtig es sei, den Sicherheits-Charm zurückzugeben. Und dann wurde er gepackt.

Barney strampelte und trat um sich. Er wollte schreien, aber eine Hand hielt ihm plötzlich den Mund zu. Barney wurde übel. Die Hand roch nach Lakritze, und Barney konnte Lakritze nicht ausstehen.

»Pst!«, zischte eine Stimme in sein Ohr. Barney wand sich wie ein kleiner Aal, nur leider war er nicht so schlüpfrig wie ein kleiner Aal und wurde festgehalten. »Du bist doch der Junge von dem Drachenwärter, stimmt’s?«, sagte die Stimme. »Pfui! Du riechst noch schlimmer als er.«

»Lass mich gehen ...«, brummelte Barney durch die ekelhafte Lakritzhand, die etwas Scharfes am Daumen hatte, das ihm wehtat.

»Ja«, sagte die Stimme in sein Ohr. »Ich möchte keine kleinen Stinker wie dich hierhaben. Ich will das da.« Die andere Hand des Angreifers fasste nach unten und entriss Barney den Sicherheits-Charm.

»Nein!«, schrie Barney und kam endlich frei. Er stürzte sich auf den Charm – und sah sich Auge in Auge einem Schreiber aus dem Manuskriptorium gegenüber. Er konnte es nicht fassen. Ein großer, schmuddelig aussehender Junge, der die graue Uniform eines Schreibers trug, hielt den Sicherheits-Charm so hoch in die Luft, dass er ihn nicht erreichen konnte, und grinste ihn an. Barney kämpfte mit den Tränen. Er verstand überhaupt nichts mehr. Heute Morgen stimmte rein gar nichts. Warum fiel ein Schreiber aus dem Manuskriptorium hinterrücks über ihn her und stahl ihm seinen Charm? Schreiber waren vertrauenswürdige Leute – das wusste jedes Kind.

»Gib ihn mir zurück!«, schrie Barney, aber der Schreiber hielt die Flasche gerade so hoch, dass er mit seinen verzweifelten Sprüngen nicht herankam.

»Du kannst sie wiederhaben, wenn du sie zu fassen kriegst, Kleiner«, verspottete ihn der Schreiber.

»Bitte, bitte«, schluchzte Barney. »Es ist wichtig. Bitte, gib ihn mir zurück.«

»Wie wichtig?«, fragte der Schreiber und hielt die Flasche noch höher.

»Ganz, ganz wichtig.«

»Dann zieh Leine. Sie gehört mir.«

Zu Barneys Entsetzen war der Schreiber urplötzlich verschwunden. Als wäre er durch die Wand gesprungen. Barney starrte bestürzt auf die Holztäfelung, und drei Schrumpfköpfe, die dort nebeneinander in einem Regal lagen, starrten zurück. Barney bekam es mit der Angst zu tun. Wie konnte jemand einfach so verschwinden? Vielleicht war er gerade von einem bösen Geist angegriffen worden. Aber Geister hatten doch keine Hände, die nach Lakritze rochen, und sie konnten auch keine Dinge anfassen, oder?

Barney war allein. Der lange Korridor lag verlassen da, und der Sicherheits-Charm war fort. Die Schrumpfköpfe grinsten ihn an, als wollten sie sagen: Viel Vergnügen als Eidechse. Ha-ha-ha!

Septimus Heap 05 - Syren
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